Kirche St. Thomas
Die Thomaskirche im Westen der Leipziger Altstadt gehörte zum 1212 gegründeten Augustiner Chorherrenstift. Mitte des 14. Jahrhunderts erhielt sie einen veränderten Chorraum, an den sich 1482–1496 ein neues Langhaus mit einer Scheitelhöhe von 17,50 Metern anschloss, bedeckt durch den imposanten Dachstuhl mit 25,75 m Höhe. Durch ihre Lage an Wall und Stadtmauer ist nicht die Westfassade, sondern die Südseite am heutigen Thomaskirchhof die eigentliche Schauseite der Kirche, wo sich am südlichen Querschiff der Turm mit der Türmerwohnung erhebt.
Durch die Reformation wurde das begüterte Thomaskloster aufgehoben und in landesherrliches bzw. städtisches Eigentum überführt und der Kreuzgang auf der Nordseite der Kirche abgebrochen. Im 18. Jahrhundert erhielt die Westfassade ein neues Portal, darüber war in einem Anbau vermutlich die Bälgekammer der Hauptorgel untergebracht. Die Fotografie von 1875 zeigt an der Nordseite den 33 Meter langen und vier Meter breiten zweigeschossigen Anbau, der auf der Nordempore eine zweite, hölzerne Empore sowie die zahlreichen Familienkapellen erschloss, die durch ein Fenster mit dem Kirchenschiff verbunden waren. Zwischen den Strebepfeilern des Chorraums waren seit 1614 Verkaufs- und Lagerräume entstanden.
Bildnachweis: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig / Bach-Archiv Leipzig (Dr. Markus Zepf, März 2020)
Das Innere der Thomaskirche unterscheidet sich heute grundlegend von der Bachzeit, wie ein Aquarell des Architekten Hubert Kratz unmittelbar vor den tiefgreifenden regotisierenden Umbaumaßnahmen 1881–1889 zeigt. Markant ist der flache Scheitel des Triumphbogens am Querhaus. Hier fand die 1489 als Schwalbennest an der Südwand entstandene kleine Orgel (II/21) 1640 auf einer neuen Empore ihren Platz. Johann Sebastian Bach ließ 1727 durch Zacharias Hildebrandt acht Register „in brauchbaren Stand“ setzen, sodass sie vermutlich am Karfreitag jenes Jahres sowie 1736 für seine Matthäus-Passion BWV 244 brauchbar war (Glöckner, Dok. VIII/C 30). Universitätsorgelmacher Johann Scheibe baute sie 1740 ab, auf dem veränderten Orgellettner entstanden die auf dem Aquarell dargestellten Familienkapellen für den Kramer Johann Martin Haugk und Handelsmann Rudolf Wilhelm Mewes. Teile des Pfeifenwerks nutzte Scheibe für die Orgel der Johanniskirche. Im 18. Jahrhundert entstanden weitere Familienkapelle im Querschiff und Chorraum, der außerdem im Zuge eines Altarneubaus 1721–23 umgestaltet wurde und ein verglastes Chorgestühl erhielt. Seit 1541 wirkten an der Kirche der Thomaspfarrer, Archidiakon, Diakon und Subdiakon sowie der Sonnabendprediger, ferner Kantor, Organist, Küster, ein Glöckner und vier Schullehrer. Die Gottesdienste fanden nach einem festgelegten Rhythmus zwischen beiden Hauptkirchen statt:
Sonntags: Früh- bzw. Hauptgottesdienst um 7 Uhr in beiden Kirchen; Mittagspredigt 11.30 Uhr im wöchentlichen Wechsel; Vesperpredigt 13.30 Uhr in beiden Kirchen
Montags, mittwochs, freitags Morgengottesdienst 6 Uhr in St. Nikolai, dienstags und donnerstags in St. Thomas, mittwochs und donnerstags mit Feier des Heiligen Abendmahls
Samstags Vespergottesdienst um 13.30 Uhr in beiden Kirchen
Unter Ratsbaumeister Hieronymus Lotter waren 1570/71 die umlaufenden Emporen mit Steinbrüstungen aus Rochlitzer Porphyr entstanden. Seit dem 17. Jahrhundert waren die Nord- und Westempore mit zusätzlichen Emporen und Kapellen versehen worden, in der Mitte der Nordempore stand zudem seit 1684 ein reich geschmückter neuer Fürstenstuhl für 18 Personen, der im Zuge der Regotisierung ausgebaut und dem Stadtgeschichtlichen Museum übergeben wurde. Ihn flankierten 1710–1881 eine hölzerne Empore und weitere Familienkapellen. Die zahlreichen Einbauten und Familienkapellen beeinträchtigten die Belichtung der Kirche. Zur Bachzeit fanden in der Thomaskirche etwa 2.000 Personen Platz.
Bildnachweis: Bach-Archiv Leipzig (Fotos Dr. Markus Zepf, März 2019; Graphik Lilo Häring, 1983)
Bachs Arbeitsplatz in der Thomaskirche war auf der Westempore. Auf der heutigen Sängerempore befand sich seit dem frühen 17. Jahrhundert der Ratsstuhl, dahinter bzw. darüber erhob sich die mehrfach erweiterte und umgebaute Orgel, deren Gehäuse zum Kirchenraum auf Säulen auskragte. Zu beiden Seiten der Orgel waren 1632 hölzerne Musizieremporen mit jeweils zehn Ständen für die Stadtpfeifer im Norden und die Kunstgeiger im Süden entstanden, die zuletzt Bachs Amtsvorgänger Johann Kuhnau ausbessern ließ. Die Thomaner musizierten des Ratsstuhls vor der Orgel an der Emporenbrüstung. Die am 3. Dezember 1723 in Kraft getretene erneuerte Schulordnung bestimmte auf S. 72, dass die Alumnen während des Gottesdienstes „so lange auf ihren Bäncken stille sitzen, bis sie zu den Pulten geruffen werden“. Die jungen Sänger in Diskant und Alt durften hingegen die einstündige Predigt im Sitzen verfolgen, „der Praecentor mit denen, welche den Baß und Tenor singen“ mussten aber „vornen am Geländer stehen bleiben“. Auf dem Schülerchor stand außerdem ein Cembalo, das vermutlich 1672 Ludwig Compenius aus dem benachbarten Halle geliefert hatte und das Bach zu Beginn seiner Tätigkeit durch den Orgelbauer David Apitzsch instandsetzen ließ (Glöckner, Dok. VIII/C 10). Für seinen umfassenden Beitrag über das Innere der Thomaskirche zur Amtszeit Johann Sebastian Bachs im 1984 erschienenen dritten Band der Beiträge zur Bachforschung wertete Superintendent i. R. Herbert Stiehl Rechnungen und Baubeschreibungen aus, nach denen Lilo Häring 1983 eine mögliche Ansicht der Emporen mit dem Ratsgestühl am Übergang von Nord- und Westempore sowie dem Taufstein im Mittelgang zeichnerisch umsetzte. Bei allen Fragen, die trotz intensiver Forschung offenbleiben, liefert die Zeichnung eine Vorstellung davon, wie es gewesen sein könnte.
Die Platzverhältnisse auf der Sängerempore veränderte der Einbau einer weiteren Kapelle für Bürgermeister Jacob Born im Mai 1739, zu der Thomasküster Johann Christoph Rost notierte: „Er ließ auch auf seine Kosten die beyden Stadt Pfeiffer Pohr Kirchen, erweitern, iedoch unter dem Chor nichts zu schmälern, sondern die Weite des Chores unten blieb wie es sonsten gewesen sey.“ Im Juli erhielten der Schülerchor wie auch die beiden Musikeremporen neue Notenpulte sowie eine „Stellage zum Spind“, die wie der Aufgang zu den Emporen nun verschließbar war (Glöckner, Dok. VIII/C 78). Als Kunstgeiger waren damals Heinrich Christian Beyer, Johann Gottfried Kornagel und Johann Christian Oschaz angestellt, als Stadtpfeifer Johann Cornelius Genzmer, Johann Caspar Gleditzsch, Ulrich Heinrich Ruhe und Johann Friedrich Kirchhofen. Zu Bachs Aufgabe gehörte ferner die Ergänzung der Musikinstrumente, deren Anschaffung und Unterhalt paritätisch die beiden Hauptkirchen paritätisch bezahlten. 1729 lieferte Johann Christian Hoffmann zwei Violinen, eine Bratsche und ein Violoncello, für die ein abschließbarer Schrank („Köthe“) auf dem Schülerchor zur Verfügung stand (Dok. II, Nr. 272).
Am 1555 geschaffenen Taufstein im Mittelgang unterhalb der Westempore (dessen imposanter Deckel im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde und sowohl auf der Zeichnung von Lilo Häring als auch dem Foto des Fürstenstuhls im Stadtgeschichtliche Museum noch erkennbar ist) empfingen folgende zwölf Kinder von Anna Magdalena und Johann Sebastian Bach die heilige Taufe: Gottfried Heinrich (1724–1763), Christian Gottlieb (1725–1728), Elisabeth Juliana Friederica (1726–1781), Ernestus Andreas (1727), Christiana Benedicta Louisa (1729?–1730), Christiana Dorothea (1731–1732), Johann Christoph Friedrich (1732–1795), Johann August Abraham (1733), Johann Christian (1735–1782), Johanna Carolina (1737–1781) und schließlich Regina Susanna (1742–1809). Bachs Tochter Regina Johanna (1728–1733) hingegen wurde am 10. Oktober 1728 "Aus Schwachheit zu Hause getaufft."
Bildnachweis Fotografie Fürstenstuhl: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig
Bildnachweis Innenaufnahme und Westportal: Bach-Archiv Leipzig (Dr. Markus Zepf, März 2020)
Bildnachweis "Bach-Sarg": Bach-Archiv Leipzig (Sammlung Heyde)
Das heutige Aussehen der Kirche bestimmen die umfassenden Renovierungen von 1881–1889 und 1961–1969. Im Zuge einer Regotisierung verlor der Kirchenraum ab 1881 zunächst seine barocke Ausstattung, von einigen Grabmälern und den lebensgroßen Porträts der Superintendenten im Chorraum einmal abgesehen. Ein neugotischer Schnitzaltar ersetzte 1889 den barocken Marmoraltar; erhalten blieb der von Caspar Friedrich Löbelt geschaffene Kruzifix am Pfeiler gegenüber der Kanzel. Die Westfassade erhielt nach Plänen von Constantin Lipsius eine vorgelagerte neugotische Halle, die zugleich einen Teil der großen Orgel von Wilhelm Sauer aufnimmt, die 1908 auf Wunsch des damaligen Thomasorganisten und späteren Thomaskantors Karl Straube von 63 auf 88 Register erweitert wurde. Sämtliche Familienkapellen in- und außerhalb der Kirche ließ Lipsius abbrechen und auf der Nordseite 1885/86 das Apostelportal mit lebensgroßen Figuren in der Vorhalle errichten.
Am 28. Juli 1948, dem 198. Todestag Johann Sebastian Bachs, brachte Universitätsmaurermeister Adalbert Malecki (der Überlieferung zufolge ohne offiziellen Auftrag) den aus der Gruft der zerstörten Johanniskirche geborgenen Zinksarg mit den angeblichen Überresten Bachs in die Thomaskirche, wo er zunächst in der Nordsakristei seinen Platz fand. Zu Bachs 200. Todestag 1950 erfolgte ein Wettbewerb zur würdigen Gestaltung des Bach-Grabes, den Kunz Nierade für sich entscheiden konnte. An den Chorstufen entstand aus Oberdorlaer Kalkstein eine Grabtumba mit profilierter Bronzeplatte, die jedoch im Zuge der umfassenden Kirchenrestaurierung 1961–69 eben in den Boden eingelassen wurde. Die Arbeiten zielten auf die Wiederherstellung des spätgotischen Raums mit gekalkten Wandflächen und hervorgehobenen Architekturteilen. Seit 1968 hängt am Triumphbogen ein ausdrucksstarkes Kruzifix aus der Schlosskirche Altenburg.
Als Ergänzung zur spätromantischen Sauer-Orgel entstand auf Wunsch des Thomasorganisten Ullrich Böhme zum Bach-Jahr 2000 in der Werkstatt Gerald Woehl, Marburg, eine im Chorton gestimmte „Bach-Orgel“ auf der Nordempore. Die Disposition mit 61 Registern auf vier Manualen und Pedal ist am Entwurf Johann Christoph Bachs für die Georgenkirche Eisenach orientiert, das Gehäuse der 1717 von Johann Sebastian Bach geprüften Orgel Johann Scheibes der Paulinerkirche nachempfunden.
Bildnachweis Graphik: Bach-Archiv Leipzig
Bildnachweis Thomaskirchhof 2019: Bach-Archiv Leipzig (Prof. Dr. Michael Maul)
Bildnachweis Apostelportal, Bach-Fenster und Bach-Orgel: Bach-Archiv Leipzig (Dr. Markus Zepf)