1775, 13. Januar (Hamburg): Brief C. P. E. Bachs an J. N. Forkel in Göttingen

To Calendarium

Schreiben Carl Philipp Emanuel Bachs an den späteren Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkel in Göttingen vom 13. Januar 1775:

 

Meines seeligen Vaters Lebenslauf im Mitzler, liebster Freund, ist vom seeligen Agricola u. mir in Berlin zusamgestoppelt worden, u. Mitzler hat blos das, was von den Worten: In die Societät angehet, bis ans Ende, dazu gesetzt. Es ist nicht viel wehrt. Der seelige war, wie ich u. alle eigentlichen Musici, kein Liebhaber, von trocknem mathematischen Zeuge.

ad 1mum: Des seeligen Unterricht in Ohrdruf mag wohl einen Organisten zum Vorwurf gehabt haben u. weiter nichts.

ad 2dum: außer Frobergern, Kerl u. Pachhelbel hat er die Wercke von Frescobaldi, dem Badenschen Capellmeister Fischer, Strunck, einigen alten guten französischen, Buxdehude, Reincken, Bruhnsen u. seinem dem Lüneburgischen Lehrmeister-Böhmen Organisten Böhmen geliebt u. studirt.

ad 3um: nescio, wodurch er von Lüneburg nach Weimar gekommen.

ad 4tum: Der seelige hat durch eigene Zusätze seinen Geschmack gebildet.

ad 5tum: Blos eigenes Nachsinnen hat ihn schon in seiner Jugend zum reinen u. starcken Fugisten gemacht. Obige Favoriten waren alle starcke Fugisten.

ad 6tum: Durch die Aufführung sehr vieler starcken Musiken in Kirchen, am Hofe u. oft unter dem freyen Himmel, bey wunderlichen u. unbeqvemen Plätzen, ohne systemathisches Studiren der Phonurgie hat er das arrangement des Orchesters kennen gelernt.
Diese Erfahrung, nebst einer natürlichen guten Kenntniß der Bauart, in wie ferne sie dem Klange nützlich ist, wozu seine besonderen Einsichten in die guten Anlagen einer Orgel, Eintheilung der Register und Placirung derselben ebenfals das Ihrige beygetragen haben, hat er gut zu nutzen gewußt.

ad 7mum: Wenn ich einige, NB nicht alle, Clavierarbeiten ausnehme, zumahl, wenn er den Stoff dazu aus dem Fantasiren auf dem Claviere hernahm, so hat er das übrige alles ohne Instrument componirt, jedoch nachher auf selbigem probirt.

ad 8um: Fürst Leopold in Cöthen, Herzog Ernst August in Weimar, Herzog Christian in Weißenfels haben ihn besonders geliebt u. auch nach proportion beschenckt. Außerdem ist er in Berlin u. Dreßden besonders geehrt worden. Ueberhaupt aber hatte er nicht das brillanteste Glück, weil er nicht dasjenige that, welches dazu nöthig ist, nehmlich die Welt durchzustreifen. Indeßen war er von Kennern u. Liebhabern genug geehrt.

ad 9um: Da er selbst die lehrreichsten Claviersachen gemacht hat, so führte er seine Schüler dazu an. In der Composition gieng er gleich an das Nützliche mit seinen Scholaren, mit Hinweglaßung aller der trockenen Arten von Contrapuncten, wie sie in Fuxen u. anderen stehen. Den Anfang musten seine Schüler mit der Erlernung des reinen 4stimmigen Generalbaßes machen. Hernach gieng er mit ihnen an die Choräle; setzte erstlich selbst den Baß dazu, u. den Alt u. den Tenor musten sie selbst erfinden. Alsdenn lehrte er sie selbst Bäße machen. Besonders drang er sehr starck auf das Aussetzen der Stimmen im General-Baße. Bey der Lehrart in Fugen fieng er mit ihnen die zweystimmigen an, u. s. w. Das Aussetzen des Generalbaßes u. die Anführung zu den Chorälen ist ohne Streit die beste Methode zur Erlernung der Composition, qvoad Harmoniam. Was die Erfindung der Gedancken betrifft, so forderte er gleich anfangs die Fähigkeit darzu, u. wer sie nicht hatte, dem riethe er, gar von der Composition wegzubleiben. Mit seinen Kindern u. auch anderen Schülern fieng er das Compositionsstudium nicht eher an, als bis er vorher Arbeiten von ihnen gesehen hatte, woraus er ein Genie entdeckte.

ad 10mum: Außer seinen Söhnen fallen mir folgende Schüler bey: Organist Schubert, Org. Vogler, Goldberg beym Grafen Brühl, Org. Altnicol mein seeliger Schwager, Org. Krebs, Agricola, Kirnberger, Müthel in Riga, Voigt in Anspach,

ad 11mum: in der lezten Zeit schätzte er hoch: Fux, Caldara, Händeln, Kaysern, Haßen, beyde Graun, Telemann, Zelenka, Benda u. überhaupt alles, was in Berlin u. Dreßden besonders zu schätzen war. Die erstgenannten 4 ausgenommen, kannte er die übrigen persöhnlich. In seinen jungen Jahren war er oft mit Telemannen zusammen, welcher auch mich aus der Taufe gehoben hat. Er schätzte ihn, besonders in seinen Instrumental Sachen sehr hoch. In Beurtheilung der Arbeiten war er, qvoad Harmoniam, sehr streng, jedoch schätzte er alles außerdem alles würcklich gute u. gab ihm seinen Beyfall, wenn auch Menschlichkeiten mit darunter zu finden waren. Bey seinen vielen Beschäftigungen hatte er kaum zu der nöthigsten Correspondenz Zeit, folglich weitläuftige schriftliche Unterhaltungen konnte er nicht abwarten. Desto mehr hatte er Gelegenheit mit braven Leuten sich mündlich zu unterhalten, weil sein Haus einem Taubenhause u. deßen Lebhaftigkeit vollkommen gliche.

Sein Der Umgang mit ihm war jederman angenehm, u. oft sehr erbaulich. Weil er nie selbst von seinem Leben etwas aufgesetzt hat, so sind die Lücken darin unvermeidlich. Ich kann nicht mehr schreiben, leben Sie wohl u. lieben Sie ferner Ihren wahren Fr.    Bach.

Was wollen Sie für ein Portrait vorsetzen. Das was Sie haben, ist fehlerhaft. Ich habe ein schönes ähnliches Original in Pastell. Die Kosten des Stammbaumes u. der Beschreibung betreffen 21/2 Thaler. Die jetzige Generation, qvoad Musicam, artet aus.
Mit einigen Sachen von J. Xstopf [vermutlich einer der Johann Christoph Bachs] kann ich aufwarten, wenn ich soll.

Quelle: Bach-Dokumente, Band 7, Nr. B 6