1738 (Göttingen): Johann Sebastian Bach als Aufführungsleiter, Klavier- und Orgelspieler

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JOHANN MATTHIAS GESNER VERGLEICHT DIE SINGENDEN HARFENSPIELER DES ALTERUMS MIT BACH ALS AUFFÜHRUNGSLEITER

(Fussnote in seiner kommentierten Ausgabe von Fabius Quintilians "Institutio oratoria", Göttingen 1738)

 

Haec omnia, Fabi, paucissima esse diceres, si videre tibi ab inferis excitato contingeret, Bachium, vt hoc potissimum vtar, quod meus non ita pridem in Thomano Lipsiensi collega fuit: manu vtraque & digitis omnibus tractantem vel polychordum nostrum, multas vnum citharas complexum, vel organon illud organorum, cuius infinitae numero tibiae follibus animantur, hinc manu vtraque, illic velocissimo pedum ministerio percurrentem, solumque elicientem plura diuersissimorum, sed eorundem consentientium inter se sonorum quasi agmina: hunc, inquam, si videres, dum illud agit, quod plures citharistae vestri, & sexcenti tibicines non agerent, non vna forte voce canentem citharoedi instar, suasque peragentem partes, sed omnibus eundem intentum, & de xxx vel xxxx adeo symphoniacis, hunc nutu, alterum supplosione pedis, tertium digito minaci reuocantem ad rhythmos & ictus; huic summa voce, ima alii, tertio media praeeuntem tonum, quo vtendum sit, vnumque adeo hominem, in maximo concinentium strepitu, cum difficillimis omnium partibus fungatur, tamen eadem statim animaduertere, si quid & vbi discrepet, & in ordine continere omnes, & occurrere vbique, & si quid titubetur restituere, membris omnibus rhythmicum, harmonias vnum omnes arguta aure metientem, voces vnum omnes, angustis vnis faucibus edentem. Maximus alioquin antiquitatis fautor, multos vnum Orpheas & viginti Arionas complexum Bachium meum, & si quis illi similis sit forte, arbitror.

 

DEUTSCHE ÜBERSETZUNG
„Dies alles würdest Du, Fabius, völlig unerheblich nennen, wenn Du, aus der Unterwelt heraufbeschworen, Bach sehen könntest – um nur ihn anzuführen, denn er war vor nicht allzu langer Zeit mein Kollege an der Leipziger Thomasschule; wie er mit beiden Händen und allen Fingern etwa unser Klavier spielt, das allein schon viele Kitharai [»citharas«] in sich faßt, oder jenes Grund-Instrument, dessen zahllose Pfeifen von Bälgen angeblasen werden, wie er hier mit beiden Händen, dort mit schnellen Füßen über die Tasten eilt und allein gleichsam Heere von ganz verschiedenen aber doch zueinander passenden Tönen hervorbringt; wenn Du ihn sähest, sag ich, wie er bei einer Leistung, die mehrere Eurer Kitharisten und zahllose Flötenspieler nicht erreichten, nicht etwa nur eine Melodie singt wie der Kitharöde und seinen eigenen Part hält, sondern auf alle zugleich achtet und von 30 oder gar 40 Musizierenden diesen durch ein Kopfnicken, den nächsten durch Aufstampfen mit dem Fuß, den dritten mit drohendem Finger zu Rhythmus und Takt anhält, dem einen in hoher, dem andern in tiefer, dem dritten in mittlerer Lage seinen Ton angibt; wie er alle zusammenhält und überall abhilft und wenn es irgendwo schwankt, die Sicherheit wiederherstellt; wie er den Takt in allen Gliedern fühlt, die Harmonien alle mit scharfem Ohre prüft, allein alle Stimmen mit der eigenen begrenzten Kehle hervorbringt. Sonst ein begeisterter Verehrer des Altertums, glaub' ich doch, daß Freund Bach allein, und wer sonst ihm vielleicht ähnlich ist, den Orpheus mehrmals und den Arion zwanzigmal übertrifft."

 

Quelle: Bach-Dokumente, Band 2, Nr. 432