Bosehaus

Das Gelände südlich des Thomaskirchhofs gehörte einst bis zum Augustiner Chorherrenstift und war im späten Mittelalter teilweise bebaut. Das heutige Gebäude Thomaskirchhof 16 hatte einen 1529 erwähnten Vorgängerbau, den Peter Hofmann 1580 für 1600 Gulden erwarb und durch einen 1586 vollendeten Neubau ersetzen ließ. Die Datierung des heutigen Bosehauses ist am Ostgiebel erhalten, die wenige Jahre später durch das aufgestockte Nachbargebäude Nummer 15 verdeckt wurde. Im Rahmen der Generalsanierung 2007–2010 ergab eine dendrochronologische Datierung des Dachstuhls in Haus Nr. 15 eine Bauzeit um 1594, wozu auch eine bei den Arbeiten entdeckte profilierte Stubendecke aus dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts passt.

Das Bosehaus, Thomaskirchhof 16, ist mit seiner zweischiffig gewölbten, auf drei Säulen ruhenden Eingangshalle und dem breiten Renaissance-Portal ein typisches Leipziger Kaufmannshaus, für das Wolfgang Hocquel 1991 vermutete, dass es bereits mit einem Kastenerker geschmückt war, wie er heute noch über zwei Geschosse vorhanden ist (sofern dieser überhaupt verändert wurde). Im Laufe der Jahrhunderte erfuhr das Bosehaus zwar verschiedene Umbauten und Erweiterungen, etwa 1610 um das heutige Treppenhaus in der westlichen Eingangshalle, doch im Gegensatz zu vielen anderen Leipziger Kaufmannshäusern des 16. Jahrhunderts blieb das damalige Wohnhaus sowohl im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert von einem Abbruch und im Umfeld des Zweiten Weltkriegs von Zerstörungen weitgehend verschont. Seinen heutigen Namen hat das Anwesen von dem wohlhabenden Gold- und Silberwarenhändler Georg Heinrich Bose, der das Gebäude im April 1710 auf dem Erbweg erwarb.

Bildnachweis: Bach-Archiv Leipzig (Dr. Markus Zepf, Mai 2020)

Bis Ende 1711 ließ Bose mit großem Aufwand das Vorderhaus modernisieren. Die in Fachwerkbauweise erstellten Gebäude im Hinterhof ließ er abbrechen und durch Maurermeister Nicolaus Rempe und Zimmermeister Hans Müller als massive Steingebäude „drey Geschoß hoch“ um einen quadratischen Innenhof neu aufführen sowie den Garten neu anlegen. Die Eingangshalle ließ er um ein Gewölbejoch nach Süden zum Innenhof erweitern (hinter der letzten Säule auf obiger Aufnahme) und richtete östlich der Eingangshalle ein Kontor ein, das 1719/20 durch einen gemauerten Kamin beheizbar wurde (heute Museums-Shop des Bach-Museums, links im Bild). Nach einer zeitgenössischen Baubeschreibung verfügte das Gebäude-Ensemble nicht nur über 19 beheizbare, zum Teil mit Stuck verzierte Stuben sowie zahlreiche Wohn-, Wirtschafts- und Lagerräume, sondern auch eine neue Wasserleitung ins Erdgeschoss des Westflügels, der heute teilweise dem Bach-Museum dient. Hier befanden sich einst Waschhaus, Badestube und Wäschekammer, während im Ostflügel zwei zur Messezeit vermietbare Warenlager, ein Speisegewölbe für Lebensmittel sowie der Pferdestall lagen.

Der bedeutendste Raum des erneuerten Bosehauses war jedoch der zwei Stockwerke umfassende Sommersaal mit sechs Fensterachsen im zweiten Obergeschoss des Hintergebäudes. Werner Neumann machte im Bach-Jahrbuch 1970 auf eine zeitgenössische Baubeschreibung aufmerksam, die vier eingemauerte Spiegel mit „artiger Einfaßung von Stoccatur-Arbeit“ aufführt sowie als architektonische Besonderheit im barocken Leipziger Wohnbau ein „gemahltes ovales Deckenstücke, so oben drüber mit angemachten Rollen an Leinen aufgezogen werden“ konnte und „eine Gallerie mit einem saubern Ballustraden-Geländer“ öffnete, die beispielsweise als Musizierempore benutzt werden konnte.

Georg Heinrich Bose starb 1731. Seine älteste Tochter Christiana Sibylla heiratete am 6. Februar 1744 den wohlhabenden Kaufmann und Kunstsammler Johann Zacharias Richter, der das Gebäude-Ensemble mitsamt dem Großbosischen Garten vor dem Grimmaischen Tor für 13.000 Reichstaler erwarb. Vermutlich im zweiten Obergeschoss des Ostflügels machte er seine Gemäldesammlung der Öffentlichkeit zugänglich. Sein Bruder verwaltete die mit einem gedruckten Katalog erschlossene "Richter’sche Naturaliensammlung" in der Hainstraße Nr. 260 (heute Hainstr. 5).

Bildnachweis: Bach-Archiv Leipzig (Dr. Markus Zepf, Innenhof; Brigitte Braum, Sommersaal)

Georg Heinrich und Eva Sibylla Bose, die in Venedig geborene Tochter eines Dänischen Konsuls, waren den Künsten zugewandt und ließen ihre Kinder entsprechend unterrichten. Da Bose bereits 1731 starb, haben sich in der Nachlassakte einige Quittungen für Musik- und Zeichenunterricht erhalten, die Werner Neumann ebenfalls 1970 veröffentlichte. Die älteste Tochter Christiana Sibylla Bose erhielt 1732/33 durch den Thomasorganisten Johann Gottlieb Görner „Information aufn Claviere“, womit das Clavichord als „fundament aller clavirten Instrument“ gemeint war. Stadtpfeifer Johann Caspar Gleditsch erteilte der zweiten Tochter, Sophia Carolina, Unterricht auf der Laute, der jüngste Sohn, Christian Gottlob, erhielt Violinunterricht durch Johann Christoph Weiß, einen Theologiestudenten der Universität, während für den zweitjüngsten Sohn, Georg Heinrich Bose jun., 1739/40 Ausgaben für eine „Flaut a bec“ (Blockflöte), „Musicalia“ und Musikunterricht erhalten sind.

Räumlich betrachtet, bestand zwischen den Familien Bach und Bose eine enge Nachbarschaft, denn die Thomasschule stand näher am Bosehaus als der 1904 eingeweihte Nachfolgebau. Dass zwischen beiden Familien auch persönlich freundschaftliche Beziehungen bestanden haben, zeigen die Kirchenbücher der Thomasgemeinde: Fünf Bose-Töchter sind bei vier Taufen Bach’scher Kinder als Patinnen eingetragen, nämlich Christiana Sibylla Bose 1731 bei Christiana Dorothea Bach und 1735 bei Johann Christian Bach, Sophia Caroline Bose 1737 bei Johanna Carolina Bach sowie Anna Regina und Susanna Elisabeth Bose 1742 bei Regina Susanna Bach. Einige Bekanntheit hat in den vergangenen Jahren ein Geburtstagsgeschenk aus Anna Magdalena Bachs Bibliothek erlangt. Sie widmete Christiana Sibylla Bose zum Geburtstag den voluminösen Band von Johann Jacob Rambachs Betrachtungen über das gantze Leiden Christi [...] nach der Harmonischen Beschreibung der vier Evangelisten abgehandelt [...], Halle / Saale 1730: „Als der HochEdlen, Hoch- Ehr- und Tugendbegabten Jonffer, Jonfer Christiana Sybilla Bosin, meiner besonders hochgeehrtesten Jonfer Gefatterin u. werthesten Herzens Freündin erfreülicher Geburths Tag einfiel; wolte mit diesen kleinen doch wohl gemeinten Andencken sich bestens empfehlen. Anna Magdalena Bachin“.

Unbekannt bleibt, ob und wie häufig die Familie Bach im Sommersaal oder der Bose'schen Wohnung musizierte, ob mit Beteiligung der Familie Bose oder mit anderen Musikern, ob öffentlich zugänglich oder im privaten Rahmen. Denkbar ist Vieles, hinreichend zu belegen bislang aber nichts.

Bildnachweis: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig (Porträt G. H. Bose); Bach-Archiv Leipzig (Matthias Knoch)

Im ausgehenden 19. und ersten Viertel des 20. Jahrhunderts ist das Bosehaus mit Paul de Wit verbunden. Im März 1887 richtete der in Maastricht geborene Musiker, Verleger und bedeutende Sammler historischer Musikinstrumente im ersten Obergeschoss des Vorderhauses die Geschäftsräume für seine 1880 begründete Zeitschrift für Instrumentenbau ein, dem bis zum Zweiten Weltkrieg maßgebenden Organ des deutschen Musikinstrumentenbaus. Die Zeitschrift hatte erheblichen Anteil am Aufbau von de Wits Sammlungen. Im Jahr 1888 verkaufte de Wit 240 Musikinstrumente der Königlichen Hochschule für Musik in Berlin, zwei Jahre später folgten weitere 282 Objekte, darunter das berühmt-berüchtigte "Bach-Cembalo". Das unsignierte zweimanualige Cembalo wird der Werkstatt von Johann Heinrich Harraß in Großbreitenbach (Thüringen) zugeschrieben. De Wit hatte es kurz zuvor vom Leipziger Thomaskantor Wilhelm Rust erworben und verkaufte es wortgewandt, aber ohne hinreichende Belege als nachgelassene "Reliquie" Johann Sebastian Bachs der Berliner Hochschule. Seine Argumente überzeugten sogar den verdienstvollen Bach-Forscher Philipp Spitta, der dem Ankauf für stolze 10.000 Reichsmark zustimmte.

Seine dritte Sammlung historischer Musikinstrumente, Musikerporträts, Zubehör und Kuriosa machte de Wit im März 1893 im zweiten Obergeschoss des Bosehauses der Öffentlichkeit zugänglich, nachdem die Hauseigentümerin Louise Hermsdorf dem Entfernen von Zwischenwänden zugestimmt hatte. Eine Übereinkunft mit der Stadt Leipzig zur Übernahme der Sammlung scheiterte 1905 und de Wit verkaufte seine Sammlung, bestehend aus über 800 Musikinstrumenten, zahlreichen Musikerporträts sowie Zubehör dem Kölner Papierfabrikanten und Musikmäzen Wilhelm Heyer. Dessen Museumsleiter, Georg Kinsky, meldete übrigens im Bach-Jahrbuch 1924 Zweifel an der Echtheit des Berliner "Bach-Cembalos" an. Heyers Erben wiederum verkauften 1926 dem Sächsischen Staat die auf mehr als 2.800 Musikinstrumente angewachsene Sammlung mit erlesenen Objekten für die Universität Leipzig. Ermöglich hat diesen Ankauf die großzügige Spende über 200.000 Reichsmark von Henri Hinrichsen, Inhaber des Musikverlags C. F. Peters Leipzig. Seiner Verdienste für Kunst und Wissenschaft ungeachtet, ermordeten ihn nationalsozialistische Schergen wegen seines jüdischen Glaubens am 17. Februar 1942 in Auschwitz.

Das Hinterhaus mit dem Sommersaal war schon 1859 zu Wohnungen umgebaut worden, im Vorderhaus befanden sich im Erdgeschoss Ladengeschäfte. Werner Neumann, Gründer und Direktor des Bach-Archivs von 1950–1973, machte 1970 im Bach-Jahrbuch auf die Bedeutung des Gebäude-Ensembles Thomaskirchhof 16 aufmerksam und erreichte, dass der Rat der Stadt Leipzig 1973 im Erdgeschoss eine Bach-Gedenkstätte einrichtete, die zum 250. Jahrestag von Bachs Dienstantritt als städtischer Thomaskantor in Leipzig eröffnet wurde. Das Bach-Archiv hatte 1951 Räume im Gohliser Schlösschen bezogen und konnte zu Johann Sebastian Bachs 300. Geburtstag am 21. März 1985 das sanierte und rekonstruierte Bosehaus als Forschungs- und Gedenkstätte beziehen. Unter Direktor Christoph Wolff wurde das Bosehaus 2007–2010 mitsamt dem östlichen Nebengebäude (Haus Nr. 15) denkmalgerecht saniert und für die Aufgaben des weithin anerkannten Forschungsinstituts mit Museum und öffentlich zugänglicher Bibliothek angepasst.

Bildnachweis: Bach-Archiv Leipzig (Dr. Markus Zepf, April 2018)