1739, 2. April (Hamburg): Pasquill in Form eines fingierten Briefes

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     Mein Herr critischer Musicus!

Ich bin einer von den Musicanten, welche sich mit gröster Sorgfalt bestrebet haben, eine ausnehmende Fertigkeit, ein Instrument zu spielen, und eine bewundernswerthe Geschicklichkeit, auf das allerkünstlichste zu componiren, zu erlangen. Ich könnte nicht allein durch alle Einwohner der Stadt, welche die Ehre geniesset, mich in ihren Mauren zu enthalten, sondern auch durch alle Vorsteher der musicalischen Capellen aller umliegenden Dörfer und Flecken beweisen / daß ich der allergröste Künstler auf den Cithrinichen bin, und daß ich über dieses noch so künstlich und wunderbar componire, daß man bey der Anhörung meiner Stücke ganz verwirrt gemacht wird. Alles gehet durch einander. Alles ist so verworren durchgearbeitet, daß man keine Stimme vor der andern vernehmen, niemals aber die Hauptmelodie erkennen, und die Worte verstehen kann. Trotz sey auch dem gebothen, welcher sich unterstehen mögte, meine Geschicklichkeit zu tadeln, meine Verdienste in Zweifel zu ziehen, oder auch mir den Ruhm abzusprechen, daß ich der gröste Cithariste und der gröste Componiste in der Welt bin! Gewiß, wenn ich zu der Zeit der alten Griechen, (die ich erst aus ihren Blättern, Mein Herr! habe kennen lernen,) gelebet hätte, man würde meiner anjetzo mit grösserm Ruhme, als aller alten Weltweisen und Musicanten gedenken.
Sie wissen nun wer ich bin, und mit wem Sie zu thun haben. Ich muß Ihnen nunmehro auch erklären, warum ich an Sie anjetzo schreibe. Ich habe mich nie|mals mit gelehrten Sachen abgegeben. Ich habe auch noch keine musicalische Schriften oder Bücher gelesen. Es würden mir auch Ihre Blätter unbekannt geblieben seyn, wenn mich nicht mein Schwager der Stadtschreiber durch viele Vorstellungen bewogen hätte, sie durch zusehen. Ich bin beständig der Meynung gewesen, ein Musicant habe bloß mit seiner Kunst genug zu thun, als daß er sich noch mit weitläuftigen Bücherschreiben, und mit gelehrten und philosophischen Untersuchungen bemühen / und damit seine Zeit verschwenden sollte. Ich kann auch darum Ihr Unternehmen eben nicht billigen, und die Wahrheit zu sagen, Sie würden klüger thun, wenn Sie bey der Ausübung der Music stehen blieben, und wenn Sie etwa ein Instrument oder die Composition rechtschaffen auszukünstlen, und Sich damit herfür zu thun, Sich bestrebten. Weil Sie aber doch einmal darauf erpicht sind, von der Music zu schreiben, so bin ich gesonnen, Ihnen hiermit zu entdecken, wie Sie Sich in Ansehung meiner Person aufzuführen haben. Zuvörderst aber können Sie es Sich vor keine geringe Ehre schätzen, daß ich mich entschlossen / durch einen gewissen gelehrten Mann, welcher mein guter Freund ist, diese Zeilen an Sie auszufertigen. Ich selbst habe mir niemals die Zeit genommen, einen weitläuftigen Brief schreiben zu lernen. Ich habe auch diese Pedanterey bisher gar wohl entrahten können. Noten, mein Herr! die kann ich vollkommen und in grosser Menge schreiben, daß Sie Sich wundern würden, wenn Sie meine künstlichen Partituren sehen sollten.
Doch zur Sache. Ich habe bey dem Durchlesen Ihrer Blätter gefunden / daß Sie Sich die Freyheit genommen, von grossen Künstlern in der Music sehr stachlicht zu schreiben, und daß Sie auch wohl gar so verwegen geworden sind, viele trefliche musicalische Kunststücke, die doch nicht wenig Kopfbrechens kosten, zu ta|deln und lächerlich zu machen. Da ich nun, wie ich von mir selbst überzeuget bin, unstreitig der gröste Künstler in der Music bin, so kann nicht unterlassen, Sie zu warnen, / daß Sie sich inskünftige nicht etwa unterstehen / mich zu tadeln, und auch nicht ferner die vielfachen Contrapuncte, die Canonen, die Circulgesänge und alle übrige künstliche Gattungen musicalischer Setzarten, welche Sie verkehrter Weise, wie ich gefunden habe, das Schwülstige nennen, zu verwerfen und lächerlich zu machen. Alle diese Sachen, sind mir besonders ans Herze gewachsen, und das ist meine gröste Lust und Freude, wenn ich ein Stück verfertiget habe, in welchem ich, wo nicht alle, doch wenigstens die meisten dieser Kunstwerke angebracht? Was sollen die kahlen Lieder, die man sogleich verstehen, im Gedächtniß behalten und nachsingen kann? Ich lobe mir ein Stück, da alles fein durch einander gehet / da man sich darüber verwundert, und da man nicht begreifen kann / wie bunt und krause alles in einander verwickelt ist, weil man keine Melodie und nichts daraus behalten kann. Das sind doch rechte Meisterstücke. Daraus kann man einen Componisten erkennen.
Schämen Sie sich, mein Herr! daß sie ehmals auf solche ausnehmende Kunststücke gescholten haben. Unterstehen Sie sich auch nicht ferner Ihre falsche und ärgerliche Meynung zu behaupten, und darauf zu beharren, oder auch mich wohl gar diesfalls herunter zu machen. Ich versichere Sie, ich lasse diesen Schimpf nicht sitzen. Kann ich schon selbst nicht wieder Sie schreiben / so will ich schon einen meiner guten Freunde bereden, mich gegen Sie zu beschützen. Derjenige Gelehrte, welcher anjetzo diesen Brief auf mein Angeben, und nach meinem Entwurfe an Sie schreibet, wird mich schon gegen Sie rechtfertigen. Lassen sie es darauf nicht ankommen, es mögte Ihnen ganz gewiß gereuen. Ich bin ein Mann von meinem Worte, und was ich einmal mir vorgesetzt habe, das halte ich ohnfehlbar. |
Ich werde sehen, wie Sie Sich aufführen werden. Richten Sie Sich nach meinen Vorstellungen, so sollen Sie allemal einen guten Freund an mir haben, wo Sie aber meinem Kopfe zuwieder handeln, so glauben Sie nur ganz fest, daß Sie und alle Ihre Anhänger auf das heftigste verfolgen wird derjenige, welcher sich bis dahin nennet

               Mein Herr,                                                                                                                       Dero Diener,

W. den 30. Dec. 1737                                                                                                                                  Cornelius.

 

Johann Adolf Scheibe

 

Quelle: Bach-Dokumente, Band 2, Nr. 442