Picanders Wohnung

Durch die Universität blühte in der Handels- und Messestadt Leipzig die Gelegenheitsdichtung. Vor allem im 18. Jahrhundert ließen wohlhabende Bürger ihnen bedeutend erscheinende Ereignisses ihres Lebens durch dichterisch mehr oder weniger begabte Absolventen der Universität für die Nachwelt in Reimformen bringen. Zu den bekanntesten und sicherlich auch erfolgreichsten Lieferanten dieser Gattung gehörte zur Bachzeit der dichterisch begabte Christian Friedrich Henrici, genannt Picander. Sein Pseudonym soll von einem Jagdunfall 1722 herrühren, als er auf eine Elster – lateinisch Pica – zielte und versehentlich einen Bauern traf.

Sein Auskommen fand Henrici zunächst als Hauslehrer der Familie Koch, in deren am Marktplatz neben dem Rathaus gelegenen Haus er bis 1732 lebte (anstelle des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gebäudes ist heute eine Freifläche). Seine Gelegenheitsdichtungen trafen nicht nur den Geschmack seiner Auftraggeber, denn 1727–1737 gab er seine gesammelten Texte unter dem Titel Picanders ernst-schertzhaffte und satyrische Gedichte in vier stattlichen Bänden heraus, ein fünfter Band erschien 1751, wobei die Bände unterschiedliche Nachauflagen erzielten. Wie Hans-Joachim Kreutzer 1991 betonte, scheinen Picander Trauergedichte schwerer gefallen zu sein als Hochzeits- oder Huldigungsgedichte, denn unter seinen 650 überlieferten Dichtungen sind nur 56 Trauergedichte, denen 436 Hochzeitscarmina gegenüberstehen, während für etwa zwei Dutzend kein Anlass bekannt ist. Während der Messen waren sowohl der Kurfürst als auch Beamte des Dresdner Hofes in Leipzig und Picander könnte hier einflussreiche Fürsprecher gewonnen haben, denn ein Bittgedicht brachte ihm 1727 eine besoldete Stelle als Aktuar im kurfürstlichen Ober-Postamt ein. Er stieg zum „Secretarius“ und „Wirklichen Ober-Post-Amts Commissarius“ auf und erhielt 1740 zudem die einträglichen Aufgaben des Kreissteuer- und Stadttranksteuer-Einnehmers sowie die Weininspektion, was mit einem merklichen Rückgang seiner literarischen Produktion verbunden war.

Thomaskantor Bach und Henrici arbeiteten bis um 1740 fruchtbar zusammen, sei es in den zeitgenössisch Geistliche Concerte genannten Kirchenkantaten wie beispielsweise Es erhub sich ein Streit BWV 19 zum Michaelisfest 1726, die Matthäus-Passion BWV 244, Markus-Passion BWV 247 und das Weihnachts-Oratorium BWV 248 oder Gelegenheitswerke wie das Dramma per musica Zerreißet, zersprenget, zertrümmert die Gruft BWV 205.1 zum Namenstag des Leipziger Universitätsdozenten Dr. August Friedrich Müller am 3. August 1725 oder die ungleich bekanntere Kaffee-Kantate Schweigt stille, plaudert nicht BWV 211, deren Entstehungsanlass und Aufführungsort unbekannt sind. Für diese fruchtbare Zusammenarbeit dürfte die räumliche Nähe zwischen den Wohnungen Bachs am Thomaskirchhof und Henricis alias Picander günstige Voraussetzungen geliefert haben. 1720–1732 lebte er kaum fünf Gehminuten von der Thomasschule entfernt in Kochs Haus Markt 3 (das 1945 zerstört und nicht wieder aufgebaut wurde), anschließend bis 1736 in Johann Schoppers Haus im Barfußgäßchen, dann in „Frau Mayens Haus“ Burgstraße 20. 1748 erwarb er einen Teil der Schlosswiesen am Ende der Burgstraße vor der kurfürstlichen Pleißenburg, wo er ein zweigeschossiges Wohnhaus erbaute, worin er bis zu seinem Tod wohnte. An dessen Stelle ist heute ein Teil des Burgplatzes, wo ein 2000 eingeweihter Denkstein an ihn erinnert. Henricis Ehefrau Johann Elisabeth übernahm am 30. Oktober 1737 neben Diakon Christian Weiße und Sophia Carolina Bose das Patenamt bei der Taufe von Johann Sebastian Bachs Tochter Johann Carolina Bach.

Bildnachweis: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig / Foto März 2020: Bach-Archiv Leipzig (Dr. Markus Zepf)