Thomasschule

Im Jahre 1254 ist erstmals im Westen der Stadt Leipzig eine Schule am Augustiner Chorherrenstift genannt, das 1212 auf Initiative des Markgrafen Dietrich von Meißen entstanden war. Im Zuge der Reformation übernahm 1543 die Stadt das begüterte Stift mitsamt der Thomasschule, die ihren musikalischen Schwerpunkt beibehielt. Die überwiegend von Leipziger Kindern besuchte Nikolaischule war 1512 schon in städtische Obhut gekommen. Die Thomasschule hingegen besuchten schon vor der Reformation viele Auswärtige, die entsprechend Unterkunft und Verpflegung benötigten. Die Thomasschule erhielt zu beinahe allen Zeiten bedeutende Vermächtnisse (sogenannte Legate) aus der Bevölkerung, deren Zinsen für Bücher, Kleidung, Unterkunft und Versorgung der Alumnen (etwa in Form von Freitischen, wie sie einstmals Johann Sebastian Bach in Ohrdruf und Lüneburg bezogen hatte) sowie die Bezahlung des Lehrpersonals bestimmt waren. Als Kantor an der Thomasschule stand Johann Sebastian Bach 1723–1750 an dritter Stelle neben Rektor und Konrektor und hatte somit ebenfalls Anteil an Legaten, zum Beispiel an jenem der Anna Justine Meyer, das „Herrn D. Johann Ulrich Meyers Frau Witwe dergestalt legiret, daß davon 5. gr.[oschen] dem Cantori, und 2 ½ gr. jeden Knaben so weit es zureichet wegen Absingung eines SterbeLiedes ausgetheilet werden sollen […]“ (Dok II, Nr. 151). Die Thomaner waren außerhalb der Gottesdienste ebenfalls im Alltag präsent, sei es bei Hochzeiten, Beerdigungen oder – zur Bachzeit seltener – der Begleitung öffentlicher Hinrichtungen.

Entlang der Stadtmauer an der Thomaskirche ließ der Stadtrat 1553 ein neues dreigeschossiges Schulhaus mit hohem Satteldach errichten. Zur Bachzeit schloss sich nördlich zur Thomaskirche ein Wirtschaftsgebäude an, sodass nur ein schmaler Weg zum Westportal der Kirche führte. Bis ins späte 19. Jahrhundert wohnten die Alumnen mit Rektor, Konrektor und Kantor unter einem Dach. Nach längeren Verhandlungen beschloss der Rat 1731 die Erweiterung des Schulhauses, das binnen eines Jahres drei weitere Stockwerke und wiederum ein dreigeschossiges Dach erhielt, in dem nun der Schlafsaal und entlang der Außenwände 32 Studierkabinette für die Alumnen untergebracht waren. Nördlich entstand ein neues Wirtschaftsgebäude, in dem auch die Kranken- und Badstube untergebracht waren; letztere befand sich zuvor kaum 100 Meter von der Schule entfernt in der Burgstraße 14. Zur Wiedereinweihung des Schulgebäudes komponierte Bach die Kantate Froher Tag, verlangte Stunden BWV 1162 (BWV Anh. 18), deren Musik verschollen ist (Dok II, Nr. 311).

Zwischen Thomasschule und dem Wohnhaus Thomaskirchhof 17 (das einst zum Besitz des Thomasklosters gehörte) befand sich bis 1875 das „Thomaspförtchen“. Eine im Dreißigjährigen Krieg zerstörte Fußgängerbrücke ins Vorgelände wurde erst 1788 ersetzt, sodass zur Bachzeit kein direkter Weg vom Thomaskirchhof in die westlich gelegenen Gärten des wohlhabenden Kaufmanns Apel führte. Nachdem die Thomasschule 1877 einen Neubau an der Schreberstraße bezogen hatte, stand die alte Schule zur Disposition und wurde (ungeachtet zahlreicher Proteste) 1902 zugunsten eines Neubaus der Superintendentur abgebrochen.

Bildnachweis Graphik: Bach-Archiv Leipzig
Bildnachweis Innenaufnahmen 1902: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Zu Bachs Zeit waren folgende Rektoren an der Thomasschule tätig:

Johann Heinrich Ernesti (1652–1729) aus Königsfeld bei Rochlitz von 1684–1729
Johann Matthias Gesner (1691–1761) aus Roth von 1730–1734
Johann August Ernesti (1707–1781) aus Tennstädt von 1734–1759

Das Amt des Konrektors bekleideten in dieser Zeit:
Christian Ludovici (1663–1732) aus Landshut bei Breslau von 1697–1724
Johann Christian Hebenstreit (1686–1756) aus Neustadt an der Orla von 1725–1731
Carl Friedrich Petzold (1678–1731) aus Ottendorff im Jahr 1731
Johann August Ernesti (1707–1781) aus Tennstädt von 1731–1734
Sigmund Friedrich Dresig (1700û1742) aus Vorberg / Lausitz von 1734–1742
Conrad Benedikt Hülse (1706–1750) aus Köthen von 1742–1750

Bachs Dienst an der Thomasschule umfasste neben Musik- auch Lateinunterricht. Schon bei der Wahl Bachs im Stadtrat am 22. April 1723 war seine Verpflichtung zum Unterricht diskutiert worden und Ratsherr Krengel gab damals zu Protokoll, würde Bach „sich der Information nicht entziehen; wenn er es aber nicht verrichten könnte, solche durch einen andern tun zu laßen“ und Ratsherr Küstner ergänzte pragmatisch: „und müste auf seine Kosten die Information von den übrigen Schul-Collegen übertragen werden.“ (Dok II, Nr. 129). In der Tat übertrug Bach einen Teil seiner Unterrichtsverpflichtung für 50 Reichstaler dem Tertius Carl Friedrich Petzold (Dok II, Nr. 175 , Nr. 177, Nr. 178). Stadtrat und Konsistorium waren hierüber nicht erfreut und noch am 2. August 1730 klagte Vizekanzler und Bürgermeister Jacob Born, dass Bach „sich nicht so, wie es seyn sollen, aufgeführet, Not. ohne Vorwissen des Reg. Herrn Bürgerm. einen Chor Schüler aufs Land geschicket“. (Dok II, Nr. 280). Ein Gespräch des Bürgermeisters mit dem Kantor erbrachte keine Besserung, vielmehr gab Born zu Protokoll, dass Bach „schlechte lust zur arbeit bezeige“, weshalb fortan Abraham Kriegel den Unterricht übernahm (Dok II, Nr. 281).

Für die Kirchenmusik an den vier innerstädtischen Kirchen St. Thomas und St. Nikolai, der Neuen Kirche und der Peterskirche standen Bach pro Schuljahr unterschiedlich viele Sänger zur Verfügung, die er nach ihrer Qualifikation „für die 4 Kirchen [einteilte], worinne sie theils musiciren, theils motetten und theils Chorale singen müßen. In denen 3 Kirchen, als zu S. Thomae, S. Nicolai und der Neüen Kirche müßen die Schüler alle musicalisch seyn. In die Peters-Kirche kömmt der Ausschuß, nemlich die, so keine music verstehen, sondern nur nothdörfftig einen Choral singen können.“ (Dok I, Nr. 22) Im Schuljahr 1729/30 standen ihm 44 Sänger zur Verfügung, die er in Nikolai-, Thomas- und Neukirche jeweils mit drei Sängern pro Stimme, in der Peterskirche mit je zwei Sängern einsetzte. Im Schuljahr 1744/45 hingegen standen ihm für die beiden ersten Chöre jeweils 17 Sänger, für den dritten Chor 13 und den vierten Chor sieben Sänger zur Verfügung (Glöckner, Dokumente zum Thomaskantorat, VIII / C45 und C88), was annähernd seinem im August 1730 formulierten „Kurtzen, iedoch höchstnöthigen Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music“ entsprach, worin er von 55 Sängern ausgegangen war.

Bildnachweis Graphik: Bach-Archiv Leipzig
Bildnachweis Fotografie: Bach-Archiv Leipzig (Dr. Markus Zepf, März 2020)